
Vor kurzem hat der sehr sehens- und lesenswerte KI-Analyst Nate Jones mit seiner Video zu den „neun Todsünden der KI-Transformation“ erneut einen Nerv getroffen. Seine Beobachtung: Es sind nicht die Technologien, an denen KI-Projekte scheitern, sondern die menschlichen und organisatorischen Muster dahinter. Diese Perspektive hat mich inspiriert, einmal genauer hinzusehen – nicht auf die Maschinen, sondern auf uns selbst.
Denn wenn ich die Erfahrungen der digitalen Transformation seit 2015 in unserer prämierten Unternehmensberatung Quantic Digital Revue passieren lasse – und insbesondere die KI-Projekte der letzten fünf Jahre betrachte –, dann zeigen sich erstaunlich klare Symptome. Überall dort, wo ambitionierte Unternehmen mit künstlicher Intelligenz arbeiten, treten ähnliche „organisatorische Krankheitsbilder“ auf: mal schleichend, mal dramatisch, aber fast immer mit Wiedererkennungswert.
Ich habe diese Phänomene mit einem Augenzwinkern zu fünf typischen „KI-Krankheiten“ zusammengefasst – inspiriert von echten Projekterfahrungen, ironisch überzeichnet, aber erschreckend real. Die Idee: Statt die Fehler immer bei der Technik zu suchen, sollten wir uns selbst diagnostizieren. Welche dieser fünf Störungen finden wir in unserem eigenen Unternehmen wieder – und sind wir bereit, an unserer Genesung zu arbeiten?
Manche KI-Projekte starten mit Begeisterung – und enden in Erschöpfung. Die Technologie funktioniert, das Team brennt, aber die Organisation erstickt in Genehmigungsroutinen, Kontrollinstanzen und Gremien. Aus anfänglicher Aufbruchsstimmung wird ein lähmender Alltag aus Formularen und Freigaben: Die Governance-Psychose hat zugeschlagen.
Symptome: KI-Projekte verlieren an Tempo. Entscheidungen werden vertagt, Verantwortlichkeiten verschwimmen, das Projektteam fühlt sich alleingelassen. Jeder Schritt wird juristisch abgesichert – bis der Fortschritt stehen bleibt.
Diagnose: Das Problem ist selten zu viel Kontrolle, sondern zu wenig Klarheit. Governance wird als Hemmschuh erlebt, weil sie reaktiv statt proaktiv gestaltet ist. Was eigentlich Stabilität geben soll, erzeugt Unsicherheit.
Therapie: Ernennen Sie für jedes KI-Projekt einen Directly Responsible Individual (DRI) – eine klare verantwortilche Person, die Entscheidungsmüdigkeit durch Handlungskompetenz ersetzt. Gute Governance ist kein Formularwesen, sondern das Rückgrat einer handlungsfähigen Organisation.
KI-ADHS ist die hyperaktive Form der Digitalisierung. Jede Woche ein neues Tool, jede Abteilung mit eigenem Experiment – und am Ende weiß niemand mehr, was eigentlich funktioniert. Alles ist in Bewegung, aber nichts bewegt sich wirklich.
Symptome: Übertriebene Experimentierfreude, Tool-Overload, ständig wechselnde Prioritäten. Die Energie ist hoch, der Fokus gering. Was fehlt, ist die Fähigkeit zur Konzentration.
Diagnose: Viele Unternehmen verwechseln Aktivität mit Fortschritt. Sie automatisieren Prozesse, bevor sie sie verstehen – ein Muster, das Nate Jones treffend als „beschleunigte Ineffizienz“ beschreibt. KI-ADHS entsteht, wenn Neugier nicht von Klarheit begleitet wird.
Therapie: Reduktion statt Expansion. Drei gute Piloten sind wertvoller als zwanzig lose Ideen. Definieren Sie klare Hypothesen: Welches Problem lösen wir? Woran messen wir Erfolg? KI-ADHS lässt sich nur durch Ruhe heilen – durch strategische Priorisierung und eine Kultur, die Fokus als Stärke begreift.
Die Symptome sind bekannt: endlose Risikoanalysen, Datenschutz-Debatten, juristische Abklärungen – und am Ende passiert: nichts. Die Organisation erstarrt in einer Perfektionshaltung, die Sicherheit vorgaukelt, aber Fortschritt verhindert.
Symptome: Lähmende Abstimmungen, übermäßige Vorsicht, Frustration im Team. Entscheidungen werden so lange geprüft, bis sie irrelevant sind.
Diagnose: Diese Angst ist selten irrational. Sie entsteht, wenn Führung Vertrauen verliert – in die Technologie, in das eigene Urteil oder in die Lernfähigkeit der Organisation. Aus Verantwortungsbewusstsein wird Vermeidungsverhalten.
Therapie: Sicherheit entsteht durch Erfahrung, nicht durch Stillstand. Schaffen Sie geschützte Räume für Experimente, fördern Sie Quick-Wins und lernen Sie sichtbar. Eine Organisation, die Fehler als Datenpunkte behandelt, statt als Katastrophen, ist reifer, als sie denkt.
Die KI soll Arbeit abnehmen – und produziert stattdessen Arbeit. Mitarbeitende sitzen vor den Outputs und korrigieren, prüfen, überarbeiten. Aus Automatisierung wird Beaufsichtigung. Das System ist fleißig, aber unzuverlässig; der Mensch genervt, aber unentbehrlich.
Symptome: Hoher Korrekturaufwand, sinkende Motivation, steigende Skepsis. Der Effizienzgewinn verpufft in der Qualitätskontrolle.
Diagnose: Das passiert, wenn KI-Systeme ohne Prozessarchitektur eingeführt werden. Datenqualität, Schnittstellen und Verantwortlichkeiten bleiben diffus. Die Maschine liefert, aber niemand weiß, wie die Ergebnisse verlässlich nutzbar sind.
Therapie: Bauen Sie echte Human-in-the-Loop-Systeme. Menschen bleiben Entscheider, KI liefert Vorschläge. Schulen Sie Teams in „Prompt Literacy“ und Prozessdesign. Wer die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine ernst nimmt, verwandelt Babysitting in Partnerschaft.
KI ist überall – und nirgends verankert. Mal soll sie Effizienz steigern, mal Innovation treiben, mal Employer Branding modernisieren. Das Unternehmen verliert die Orientierung: Es weiß, dass KI wichtig ist, aber nicht, wofür.
Symptome: Zahlreiche Einzelinitiativen, keine gemeinsame Richtung. Führungsteams wechseln die Prioritäten schneller als die Tools.
Diagnose: Die Ursache liegt in einer fehlenden Erzählung. KI wird als Werkzeug verstanden, nicht als Ausdruck der Strategie. Einzelne Prozesse glänzen, das Gesamtsystem verliert an Kohärenz – eine klassische Folge dessen, was Jones als „Überperformance isolierter Prozesse“ beschreibt.
Therapie: Definieren Sie eine klare KI-Vision. Was soll KI in Ihrem Unternehmen symbolisieren? Effizienz, Kreativität, Verantwortung? Formulieren Sie ein Narrativ, das alle Projekte verbindet. Eine starke Identität ist der Kompass, der verhindert, dass KI zum Selbstzweck wird.
Diese fünf Krankheitsbilder sind keine Pathologien – sie sind Momentaufnahmen einer Transformation, die noch lernt, sich selbst zu verstehen. Wer sie erkennt, gewinnt Klarheit. Wer sie ignoriert, verliert Energie.
Die KI-Transformation ist kein technologisches Projekt, sondern ein kulturelles Heilverfahren. Und wie in jeder guten Therapie gilt: Erst die ehrliche Diagnose ermöglicht echte Genesung.
Autor: Stephan Preuss